Julienne Franke, 2022
Sehr geehrte Frau Lange, sehr geehrte Frau Dr. Hanke, liebe Lena Knilli, liebe Sybille Loew, sehr geehrte Frau März, sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter von KIBIS, vom Rosemarie-Nieschlag-Hospizdienst und vom Ambulanten Hospizdienst Diakonieverband Hannover Land, liebe Nadine Francksen, sehr geehrte Damen und Herren.
Ich freue mich, einen so großen Personenkreis von so vielen unterschiedliche Institutionen zu begrüßen, aber vor allem freue ich mich, hier in Lehrte eine Ausstellung zeigen zu können, für die sich vier Künstlerinnen aus drei Ländern zusammengeschlossen haben. Jede der Künstlerinnen hat sich unabhängig voneinander mit Aspekten zum Thema „Vergessen und Erinnern“ befasst, ohne Auftrag, ohne die Gewissheit, dass die Werke je ausgestellt werden.
Wie Sie bereits gehört haben, war das gemeinsame Ausstellungskonzept so überzeugend, dass eine Präsentation im Künstlerhaus Wien und im Österreichischen Kulturforum in Prag stattgefunden hat. Dies liegt sicher an der besonderen gesellschaftlichen Relevanz, vielleicht auch Brisanz, des Themas. Kunst stellt stets einen Gesellschaftsbezug her, nur ist dieser nicht immer so eindeutig bestimmten Themen zu zuordnen wie in diesem Fall. Selbst ein ungegenständliches Gemälde wie „Das schwarze Quadrat“ von Kasimir Malewitsch steht in Verbindung zu den gesellschaftlichen Verhältnisse von 1914/1915 in Russland.
In den Werken von Lena Knilli, Sybille Loew, Jana Kasalová und Kateřina Šedá wird das Vergessen unter verschiedenen Gesichtspunkten und mit unterschiedlichen künstlerischen Mitteln thematisiert.
„Das habe ich vergessen“ – diesen Satz hat wahrscheinlich jeder und jede schon einmal gehört und/oder gesagt. Vergessen werden die Hausarbeiten für die Schule, Turnbeutel, die Milch, die man mitbringen oder den Müll, den man runtertragen wollte, die Haustürschlüssel, wichtige Unterlagen oder der PIN-Code der EC Karte. Die Konsequenzen dieses Vergessens können ärgerlich sein, Streit hervorrufen, Kosten verursachen, Abläufe verzögern. Das Vergessen, das in der Ausstellung angesprochen wird, überschreitet jedoch diese alltäglichen Vorkommnisse.
Die Werke der Künstlerinnen befassen sich mit der Gedächtnisleistung des Menschen, die aus Vergessen und Erinnern sowie dem dazwischen liegendem Erleben besteht. Denn diese Komponenten gehören zusammen. Was Sie eben gehört haben, kann im nächsten Moment vergessen oder im Gehirn abgelegt worden sein, um später erinnert zu werden. Die Reden werden komprimiert und nicht Wort für Wort gespeichert. Am Ende des Abends wird die Erinnerung eine andere sein, als in diesem Augenblick. Und wenn Sie zu Hause über die Eröffnung berichten, erzählen Sie von Aspekten, die sich eingeprägt haben, weil sie an bestimmte Teile ihrer Erfahrungen ankoppeln konnten, während eine andere Person abweichend berichten wird, ohne deshalb Falsches zu sagen.
Ohne die Möglichkeit zu Vergessen bzw. Erlebtes zu strukturieren und zu kontextualisieren und damit zu verändern, wäre Erinnerung eine bloße Aneinanderreihung von Ereignissen. Menschen schaffen sich aus ihren Erlebnissen und Erinnerungen eine individuelle Lebensgeschichte und Identität. Wobei diese auch durch die Zugehörigkeit zu Gruppen und Gesellschaften entsteht, die Erlebnisse und Erinnerungen teilen. Der Verlust der Identität kann durch unterschiedliche Faktoren hervorgerufen werden, Arbeitslosigkeit, Migration, fehlende Integration in Gruppen oder dem Verlust des Erinnerungsvermögens.
Damit wären wir beim ersten Thema der Ausstellung – der Demenzerkrankung. Sie zeigt sich im Umgang durch Vergesslichkeit, Orientierungslosigkeit, Sprachstörungen u.a.m. Bei medizinischen Untersuchungen des Gehirns werden physiologische Veränderungen sichtbar, als Rückgang von Gehirngewebe, Vergrößerung von Lücken im Gewebe und Ablagerungen im Gehirn.
Mit diesen sichtbaren Veränderungen des Gehirns befasst sich die aus Graz stammende, in West-Berlin aufgewachsene Lena Knilli (1961). Sie hat bereits einmal in Lehrte Werke präsentiert im Rahmen der Ausstellung MEETING MARIA 2016/2017 zusammen mit 10 weiteren Künstlerinnen und Künstler, die alle bei Maria Lassnig in Wien studiert haben.
In den aktuell gezeigten Arbeiten befasst sie sich mit der Frage nach der Anatomie des Vergessens. In ihren Collagen verwendet sie Scans von Gehirnen, die Veränderungen aufgrund einer Demenzerkrankung zeigen, wie man an den vier Arbeiten „Über das Vergessen“, 2012, sehen kann. Die medizinisch-diagnostischen Bilder des Gehirns erscheinen in unterschiedlichen Farben, das Gehirn scheint selbst zu verblassen wie die in ihm gespeicherte Erinnerung. Die Garnspulen und Fäden, die hinzugefügt sind, erweitern die medizinische Darstellung um eine symbolisch-assoziative Ebene.
In der griechischen bzw. römischen Mythologie gibt es die Vorstellung, der Moiren oder Parzen, die den Lebensfaden und darin enthalten das Schicksal eines jeden Menschen spinnen. Führt man den Gedanken weiter, kreuzen sich die Lebensfäden vieler Menschen durch Begegnungen, gemeinsam Erlebtes, Gelerntes und Wahrgenommenes. Ein Geflecht entsteht, das die Identität bildet und eine Verbundenheit im Leben erzeugt. Wenn jedoch die Erinnerung an diese Ereignisse im Alter oder durch Krankheit löchrig wird, zerfasert auch das Geflecht an Bindungen. Die Fäden wirken lose und ohne Spannung. Die eigene Lebenserzählung schwindet, der Lebensfaden mag noch bestehen, aber er gleitet von der Rolle oder Spule, die wie Zahnräder wirken, die nicht mehr ineinandergreifen.
In der Medizin wird vom Krankheitsbild gesprochen, das alle Symptome erfasst, doch wirkt diese wissenschaftliche Schilderung oft abstrakt. Lena Knilli versucht in ihren Werken eine Erweiterung ins Fassbare oder Anschauliche herzustellen etwa durch ein Blumenmuster. Die Erinnerung eines Menschen kann bunt und phantasievoll sein, doch aufgrund einer Demenzerkrankung entstehen Löcher. Die Punkte wirken wie Inseln, die unverbunden nebeneinanderstehen und vielleicht nur Details enthalten.
Die für Laien abstrakten, nicht lesbaren medizinischen Bilder aus Ultraschall, Kernspintomografie oder anderen Untersuchungsverfahren machen Gewebe sichtbar, aber nicht die Veränderung der Persönlichkeit, die Konsequenzen für den künftigen Alltag. Hier bieten die Collagen von Lena Knilli andere Zugänge, indem sie Assoziationsmöglichkeiten schaffen. Das Gehirn ist letztlich eine abstrakte Masse aus Zellgewebe, das aber in jedem Moment einen unendlichen Strom von Gedanken, Bildern, Worten, Wahrnehmungen produziert, die uns Mensch sein lassen.
Die Frage nach Lebensspuren und Lebensläufe beschäftigt die Künstlerin schon länger und in verschiedener Hinsicht. Das Werk „Sie trägt Deine Geschichte“, 2017, besteht aus vier Collagen und einer Tonspur. Jedes Neugeborene wird durch sein Erbgut geprägt, aber auch durch die Lebensgeschichte der Vorfahren, das, was die Großeltern und Eltern erlebt haben. Das Neugeborene erhielt traditionell als Geschenk vom Paten oder der Patin einen Apostellöffel, mit dem es Brei löffeln lernen soll, vielleicht aber auch die Suppe der Vorfahren auslöffeln muß. Denn wir werden nicht nur durch eigene Erfahrungen geprägt, sondern auch bewußt oder unbewußt durch die der Vorfahren. Ihre Lebensgeschichte geben sie als Erzählung an die Kinder weiter oder auch indem sie diese verschweigen. Was sie erlebt haben - Krieg, Gewalt, Frieden, Ängste oder Familienkonflikte - übt einen Einfluß auf das Kind aus, kann unbewußt Schuldgefühle, Ängste und Belastungen hervorrufen, ohne das es einen offensichtlichen Grund gibt. Dies wird auch von medizinischen Forschungen belegt.
In den Collagen werden junge Menschen gezeigt, die mit unterschiedlichen Objekten assoziativ verbunden sind. Dazu sind biographische Erinnerungen von Menschen zu hören, die zwischen 1930 und 1943 in Wien und der Umgebung geboren wurden. Eine Verbindung von Vergangenheit und Zukunft entsteht, die belastend oder beflügelnd sein kann.
Die Frage nach den unterschiedlichen Vorstellungen und Lebensphasen innerhalb einer Familie thematisiert auch Kateřina Šedá (1977 geboren in Brno, Tschechien). Die international bekannte Künstlerin arbeitet meist partizipativ, beschäftigt sich mit den Auswirkungen von wirtschaftlichen Verhältnissen auf soziale Gruppen, z.B. dem Bau einer Industrieanlage, der zwar Arbeitsplätze schafft, aber soziale, ökologische und räumliche Strukturen zerstören kann. Solche Auswirkungen auf ein Gemeinwesen, auf soziale Beziehungen und den Zusammenhalt sind in der Stadt Lehrte ebenfalls zu merken, da sie ab dem 19. Jahrhundert zunehmend durch Bahntrassen und Autostraßen zerschnitten wurde.
Bei der hier ausgestellten Arbeit „Es ist egal“, 2005, war eine familiäre Situation der Ausgangspunkt. Die Großmutter von Kateřina Šedá Jana, die ihr ganzes Leben lang aktiv gewesen war, stellte mit Beginn ihres Ruhetandes und nach dem Tod ihres Mannes alle Tätigkeiten ein. Sie ging nicht mehr einkaufen, kochte und putze nicht, sondern schaute pausenlos fern. Die Familie mußte die Versorgung übernehmen, Freundinnen zogen sich zurück, weil die Großmutter alle Fragen und Gespräche mit dem Satz „Es ist egal“ beantwortete bzw. beendete.
Um diesen Zustand zu durchbrechen, suchte Kateřina Šedá nach einem Ansatz aus der aktiven Zeit der Großmutter, um mit ihr ins Gespräch zu kommen. Die Großmutter Jana war von 1950 bis 1983 als Leiterin eines Werkzeuglagers einer Haushaltswarenhandlung in Brünn tätig gewesen. Der große, vielfältige Warenbestand und die Preise kannte sie auswendig, dies bildete die Grundlage für ein Zeichenprojekt. Jana zeichnete auf Anregung innerhalb von drei Jahren mehr als 650 Produkte des Warensortiments. Durch diese Beschäftigung verschwand der Satz „Es ist egal“ wieder aus den Gesprächen.
Die Zeichnungen, die Sie hier sehen, sind nur ein Ausschnitt aus dem Gesamtbestand. Wie in Zeilen sind einzelne Produktgruppen zusammengefasst. Die Werkzeuge sind trotz der ungeübten Darstellung in unterschiedlichen Größen dargestellt und zum Teil mit Zentimeterangaben versehen. In der rechten Spalte ist der Gesamtbestand aufgelistet, teils mit Nennung der Herstellerfirma oder des Landes, aus dem es stammt. Die Bezeichnung NDR taucht auf, was nichts mit dem Norddeutschen Rundfunk zu tun hat, sondern die tschechische Abkürzung für die DDR ist, denn der Zeitraum der Berufstätigkeit lag zwischen 1950 bis 1983. Ein individuelles Archiv ist entstanden, das ein Arbeitsleben sichtbar macht. Die Frage, warum die Großmutter Jana nach Ende des Arbeitslebens ihr Interesse am Leben und anderen Menschen verloren hat, bleibt offen. War sie erschöpft vom pausenlosen Funktionieren, waren die Brüche durch den Ruhestand, den Verlust des Partners und die veränderten politischen Verhältnissen zu groß? „Es ist egal“ drückt Gleichgültigkeit aus, doch wenn alles die gleiche Gültigkeit besitzt, was ist dann wertvoll, was wichtig?
In einer Gesellschaft, die das Ökonomische höher einschätzt als das Soziale, und dies wird an den Gehaltsunterschieden zwischen produzierenden Berufen gegenüber Tätigkeiten im sozialen Bereich wie Krankenpflege und Kinderbetreuung und dem Dienstleistungsgewerbe wie Verkäuferin oder Kellner sichtbar, trifft der Satz „Es ist egal“ eine zentrale Frage des Gemeinwesens. Ist der Konsum, das Wegwerfen und ständiges Wachstum wirklich höher zu bewerten als das Miteinander, das Füreinander und das Maßhalten? Letztlich wird die Schere von arm und reich immer größer und die Fragen nach Lebensinhalt und psychischer Stabilität dem Einzelnen überlassen.
Sybille Loew (1960 geboren in Nordhorn, Deutschland) beschäftigt sich in anderer Form mit der Vereinzelung und Vereinsamung in der Gesellschaft in ihrer Arbeit „Stiller Abtrag“, 2005. Mit diesem Begriff ist eine anonyme Beerdigung von Amts wegen gemeint, die ohne Feier stattfindet. Dies tritt ein, wenn keine Verwandten oder Freunde da sind, die sich um eine Beerdigung und den Nachlass kümmern können.
Ein Phänomen, das es in jeder größeren Stadt gibt, sicher seltener auf dem Land. In Prag sind dies jährlich etwas 120 bis 180 Personen, in Wien 800 bis 900 und in München ca. 600. Die Menschen werden eingeäschert und auf Anordnung der Stadtverwaltung beerdigt. Hier ist in einer anderen Weise die Verbundenheit im Gewebe der Lebensfäden verloren gegangen, denn die Erinnerung der Angehörigen hält Menschen ein Stück weit lebendig. Aber wer erinnert sich an anonym verstorbene Menschen?
Sybille Loew hat die Namen, das Alter und Sterbedatum aller anonym beerdigten Menschen im Jahr 2005 in München auf Schilder gestickt. Solche Schilder erhalten Neugeborene im Krankenhaus, damit sie zugeordnet werden können. Nun setzt Sybille Loew die Schilder am Ende des Lebens als Erinnerungstafeln ein. Das die Daten von Hand gestickt und nicht einfach geschrieben oder aufgedruckt wurden, verlängert den Entstehungsprozess und macht Zeit sichtbar. Dieses Sticken von Namen und Initialen ist etwas aus der Mode gekommen bzw. wird heute maschinell erledigt und war früher bei Kleidungsstücken, Wäsche oder Stofftaschentücher üblich. Es zeigte Besitzverhältnisse auf, als all diese Dinge noch sehr wertvoll waren, erleichtert aber auch die Zuordnung von Kleidungsstücken bei Uniformen, Berufskleidung u.a.m. Kleidungsstücke und Wäsche werden körpernah getragen, sie werden zu Erinnerungsträgern einer Person, zum Teil bis über den Tod hinaus.
Mit ihrer Installation schafft Sybille Loew einen Ort des Gedenkens jenseits des Friedhofs. Sie stellt aber auch eine neue Verbindung her zwischen all den Menschen einer Stadt, die einsam oder ohne Nachkommen verstorben sind.
Bei Jana Kasalová (1974 geboren in Turnov, Tschechien) wird noch eine andere Dimension des Vergessens und Erinnerns angesprochen. Sie beschäftigt sich mit Orts- und Landschaftsbezeichnungen auf Landkarten, die als Erinnerungsträger fungieren, aber leicht austauschbar und zerstörbar sind. Verschiedene Landkarten sind hier zu sehen, manche sind als solche auf den ersten Blick erkennbar, doch wenn man näher herantritt, sind die Ortsbezeichnungen von schwarzen Strichen überdeckt. Sich alleine an Höhenlinien und Straßenführungen zu orientieren gelingt nicht, die Bezeichnung der Orte, Seen und Berge ist entscheidend.
Andererseits sind die Namen allein, die durch eine weiße bzw. schwarze Abdeckung sichtbar werden auch nicht ausreichend, um eine Vorstellung der Landschaft zu erhalten. Hier scheint die Erinnerung nur punktuell sichtbar zu sein, die Verbindung, seien es Straßen, Flüsse oder die Landschaft an sich, fehlt. Die Orte befinden sich im Nirgendwo.
Landkarten sind heute aus der Mode gekommen, da man elektronische GPS – Systeme nutzt. Aber Landkarten sind mehr als Orientierungshilfen, sie sind Erinnerungsspeicher. Dies wird an der Karte des österreichisch-ungarischen Königreichs von 1910 sichtbar, die aus Tschechien stammt. Sie wurde zerknüllt oder gefaltet und bildet eine neue Gebirgslandschaft, in der man sich zu Recht finden muß. Anhand der Ortsnamen kann man sich orientieren, aber sie erscheinen auf Tschechisch. Ohne Sprachkenntnisse wird die Orientierung also schwierig, z.B. heißt der Bodensee, der in Süddeutschland auch als Schwäbisches Meer bezeichnet wird, auf Englisch Lake Constanze. Damit ist Konstanz die ausschlaggebende Komponente, nicht Bregenz oder eine andere Stadt. Aber auf Tschechisch heißt die Übersetzung ebenfalls Bodensee.
Unterschiedliche Orientierungs- oder Desorientierungssysteme werden sichtbar. Der Genfer See heißt auf Französisch Lac Leman, was unsinnig erscheint, wenn man weiß, daß Leman das indogermanisches Wort für See ist, also heißt der Genfer See auf Französisch See See. Sprachbezüge werden vergessen, aber bewußt auch in die Vergessenheit gedrängt.
Bei den drei liegenden Tafeln wird der Wechsel von Ortsbezeichnungen in verschiedene Sprachen thematisiert. Allerdings ist die Lesbarkeit zum Teil eingeschränkt, weil die Schrift schon verblasst zu sein scheint oder weil schwarze Balken einen Teil der Schrift verdecken. Dieses Unkenntlich machen durch schwarze Balken hat immer etwas von Zensur, als dürften bestimmte Inhalte nicht allen zugänglich sein. Ein Tabu in Bezug auf bestimmte Bezeichnungen und Namen entsteht, das kann umstritten oder sinnvoll sein. Niemand würde eine benachbarte Stadt von Lehrte als Stadt des KdF(Kraft durch Freude)-Wagens bei Fallersleben bezeichnen, dies war nur 1938 bis Mai 1945 der Fall, danach wurde sie Wolfsburg genannt. Dies zeigt sehr deutlich politische Veränderungen und Tabuisierungen.
Jana Kasalová verweist mit der Arbeit Vlčí jámy / Wolfsgrub ebenfalls auf geänderte politische Verhältnisse, aber auch auf noch frühere Bezüge. Denn hier wird auf ein Tier, den Wolf verwiesen, der in Fallen gefangen wurden, weil er eine Bedrohung bedeutete. Diese Zusammenhänge schwinden aus dem Gedächtnis, z.B. ist eine Durchquerung des Höllentals im Schwarzwald heute nicht mehr gefährlich und die Bezeichnung des ersten Ortes den man im Tal erreicht – Himmelreich – eher erheiternd als verständlich.
Dass Ortsbezeichnungen in einer Sprache gelöscht werden, kann einen Verlust von Identität hervorrufen, die stark durch die Sprache und Landschaft, in der man lebt oder aufgewachsen ist, geprägt wird. Ein Verlust der Heimat und der Möglichkeit sich selbstverständlich in einer gemeinsamen Sprache zu unterhalten hat enorme Auswirkungen, teils über Generationen hinweg. Dies ist nicht nur ein Phänomen des nordböhmischen Sudetenlandes auf den sich die Karten von Jana Kasalová beziehen, sondern ist überall zu finden, wenn auch in Grenzgebieten in besonderer Weise.
Die Ausstellung zeigt die Vielschichtigkeit des Themas Vergessen auf besondere, teils individuelle Weise, bietet jedoch gleichzeitig einen Blick auf mehrere Länder und Wahrnehmungsperspektiven. Ich hoffe, dass eine oder andere davon bleibt Ihnen in Erinnerung und bereichert Ihre bisherigen Erfahrungen zu diesem Thema.
Danken möchte ich zunächst der Niedersächsischen Sparkassenstiftung und der Sparkasse Hannover für die Förderung, ohne die die Ausstellung hier nicht gezeigt werden könnte.
Ich danke weiterhin den vielen Kooperationspartnerinnen, mit denen die Arbeit gerade erst beginnt und hoffentlich auch über das Projekt hinaus bei weiteren Gelegenheiten fortgeführt wird.
Ganz besonders danke ich in diesem Kontext meiner Kollegin Nadine Francksen, ohne deren Bereitschaft und Engagement das Begleitprogramm nicht möglich wäre.
Aber an erster Stelle gilt mein Dank den vier beteiligten Künstlerinnen, Jana Kasalová und Kateřina Šedá, die noch nicht hier waren, Sybille Loew, die auch beim Aufbau Ihrer Installation fulminantes geleistet hat und besonders Lena Knilli. Ohne Ihr Vertrauen in diesen Ausstellungsort wäre eine Präsentation in Lehrte nicht möglich gewesen, ebensowenig wie ohne Ihre organisatorische Arbeit und Ihr Engagement beim Aufbau.
Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend!
Julienne Franke
Julienne Franke, 2022
Sehr geehrte Frau Lange, sehr geehrte Frau Dr. Hanke, liebe Lena Knilli, liebe Sybille Loew, sehr geehrte Frau März, sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter von KIBIS, vom Rosemarie-Nieschlag-Hospizdienst und vom Ambulanten Hospizdienst Diakonieverband Hannover Land, liebe Nadine Francksen, sehr geehrte Damen und Herren.
Ich freue mich, einen so großen Personenkreis von so vielen unterschiedliche Institutionen zu begrüßen, aber vor allem freue ich mich, hier in Lehrte eine Ausstellung zeigen zu können, für die sich vier Künstlerinnen aus drei Ländern zusammengeschlossen haben. Jede der Künstlerinnen hat sich unabhängig voneinander mit Aspekten zum Thema „Vergessen und Erinnern“ befasst, ohne Auftrag, ohne die Gewissheit, dass die Werke je ausgestellt werden.
Wie Sie bereits gehört haben, war das gemeinsame Ausstellungskonzept so überzeugend, dass eine Präsentation im Künstlerhaus Wien und im Österreichischen Kulturforum in Prag stattgefunden hat. Dies liegt sicher an der besonderen gesellschaftlichen Relevanz, vielleicht auch Brisanz, des Themas. Kunst stellt stets einen Gesellschaftsbezug her, nur ist dieser nicht immer so eindeutig bestimmten Themen zu zuordnen wie in diesem Fall. Selbst ein ungegenständliches Gemälde wie „Das schwarze Quadrat“ von Kasimir Malewitsch steht in Verbindung zu den gesellschaftlichen Verhältnisse von 1914/1915 in Russland.
In den Werken von Lena Knilli, Sybille Loew, Jana Kasalová und Kateřina Šedá wird das Vergessen unter verschiedenen Gesichtspunkten und mit unterschiedlichen künstlerischen Mitteln thematisiert.
„Das habe ich vergessen“ – diesen Satz hat wahrscheinlich jeder und jede schon einmal gehört und/oder gesagt. Vergessen werden die Hausarbeiten für die Schule, Turnbeutel, die Milch, die man mitbringen oder den Müll, den man runtertragen wollte, die Haustürschlüssel, wichtige Unterlagen oder der PIN-Code der EC Karte. Die Konsequenzen dieses Vergessens können ärgerlich sein, Streit hervorrufen, Kosten verursachen, Abläufe verzögern. Das Vergessen, das in der Ausstellung angesprochen wird, überschreitet jedoch diese alltäglichen Vorkommnisse.
Die Werke der Künstlerinnen befassen sich mit der Gedächtnisleistung des Menschen, die aus Vergessen und Erinnern sowie dem dazwischen liegendem Erleben besteht. Denn diese Komponenten gehören zusammen. Was Sie eben gehört haben, kann im nächsten Moment vergessen oder im Gehirn abgelegt worden sein, um später erinnert zu werden. Die Reden werden komprimiert und nicht Wort für Wort gespeichert. Am Ende des Abends wird die Erinnerung eine andere sein, als in diesem Augenblick. Und wenn Sie zu Hause über die Eröffnung berichten, erzählen Sie von Aspekten, die sich eingeprägt haben, weil sie an bestimmte Teile ihrer Erfahrungen ankoppeln konnten, während eine andere Person abweichend berichten wird, ohne deshalb Falsches zu sagen.
Ohne die Möglichkeit zu Vergessen bzw. Erlebtes zu strukturieren und zu kontextualisieren und damit zu verändern, wäre Erinnerung eine bloße Aneinanderreihung von Ereignissen. Menschen schaffen sich aus ihren Erlebnissen und Erinnerungen eine individuelle Lebensgeschichte und Identität. Wobei diese auch durch die Zugehörigkeit zu Gruppen und Gesellschaften entsteht, die Erlebnisse und Erinnerungen teilen. Der Verlust der Identität kann durch unterschiedliche Faktoren hervorgerufen werden, Arbeitslosigkeit, Migration, fehlende Integration in Gruppen oder dem Verlust des Erinnerungsvermögens.
Damit wären wir beim ersten Thema der Ausstellung – der Demenzerkrankung. Sie zeigt sich im Umgang durch Vergesslichkeit, Orientierungslosigkeit, Sprachstörungen u.a.m. Bei medizinischen Untersuchungen des Gehirns werden physiologische Veränderungen sichtbar, als Rückgang von Gehirngewebe, Vergrößerung von Lücken im Gewebe und Ablagerungen im Gehirn.
Mit diesen sichtbaren Veränderungen des Gehirns befasst sich die aus Graz stammende, in West-Berlin aufgewachsene Lena Knilli (1961). Sie hat bereits einmal in Lehrte Werke präsentiert im Rahmen der Ausstellung MEETING MARIA 2016/2017 zusammen mit 10 weiteren Künstlerinnen und Künstler, die alle bei Maria Lassnig in Wien studiert haben.
In den aktuell gezeigten Arbeiten befasst sie sich mit der Frage nach der Anatomie des Vergessens. In ihren Collagen verwendet sie Scans von Gehirnen, die Veränderungen aufgrund einer Demenzerkrankung zeigen, wie man an den vier Arbeiten „Über das Vergessen“, 2012, sehen kann. Die medizinisch-diagnostischen Bilder des Gehirns erscheinen in unterschiedlichen Farben, das Gehirn scheint selbst zu verblassen wie die in ihm gespeicherte Erinnerung. Die Garnspulen und Fäden, die hinzugefügt sind, erweitern die medizinische Darstellung um eine symbolisch-assoziative Ebene.
In der griechischen bzw. römischen Mythologie gibt es die Vorstellung, der Moiren oder Parzen, die den Lebensfaden und darin enthalten das Schicksal eines jeden Menschen spinnen. Führt man den Gedanken weiter, kreuzen sich die Lebensfäden vieler Menschen durch Begegnungen, gemeinsam Erlebtes, Gelerntes und Wahrgenommenes. Ein Geflecht entsteht, das die Identität bildet und eine Verbundenheit im Leben erzeugt. Wenn jedoch die Erinnerung an diese Ereignisse im Alter oder durch Krankheit löchrig wird, zerfasert auch das Geflecht an Bindungen. Die Fäden wirken lose und ohne Spannung. Die eigene Lebenserzählung schwindet, der Lebensfaden mag noch bestehen, aber er gleitet von der Rolle oder Spule, die wie Zahnräder wirken, die nicht mehr ineinandergreifen.
In der Medizin wird vom Krankheitsbild gesprochen, das alle Symptome erfasst, doch wirkt diese wissenschaftliche Schilderung oft abstrakt. Lena Knilli versucht in ihren Werken eine Erweiterung ins Fassbare oder Anschauliche herzustellen etwa durch ein Blumenmuster. Die Erinnerung eines Menschen kann bunt und phantasievoll sein, doch aufgrund einer Demenzerkrankung entstehen Löcher. Die Punkte wirken wie Inseln, die unverbunden nebeneinanderstehen und vielleicht nur Details enthalten.
Die für Laien abstrakten, nicht lesbaren medizinischen Bilder aus Ultraschall, Kernspintomografie oder anderen Untersuchungsverfahren machen Gewebe sichtbar, aber nicht die Veränderung der Persönlichkeit, die Konsequenzen für den künftigen Alltag. Hier bieten die Collagen von Lena Knilli andere Zugänge, indem sie Assoziationsmöglichkeiten schaffen. Das Gehirn ist letztlich eine abstrakte Masse aus Zellgewebe, das aber in jedem Moment einen unendlichen Strom von Gedanken, Bildern, Worten, Wahrnehmungen produziert, die uns Mensch sein lassen.
Die Frage nach Lebensspuren und Lebensläufe beschäftigt die Künstlerin schon länger und in verschiedener Hinsicht. Das Werk „Sie trägt Deine Geschichte“, 2017, besteht aus vier Collagen und einer Tonspur. Jedes Neugeborene wird durch sein Erbgut geprägt, aber auch durch die Lebensgeschichte der Vorfahren, das, was die Großeltern und Eltern erlebt haben. Das Neugeborene erhielt traditionell als Geschenk vom Paten oder der Patin einen Apostellöffel, mit dem es Brei löffeln lernen soll, vielleicht aber auch die Suppe der Vorfahren auslöffeln muß. Denn wir werden nicht nur durch eigene Erfahrungen geprägt, sondern auch bewußt oder unbewußt durch die der Vorfahren. Ihre Lebensgeschichte geben sie als Erzählung an die Kinder weiter oder auch indem sie diese verschweigen. Was sie erlebt haben - Krieg, Gewalt, Frieden, Ängste oder Familienkonflikte - übt einen Einfluß auf das Kind aus, kann unbewußt Schuldgefühle, Ängste und Belastungen hervorrufen, ohne das es einen offensichtlichen Grund gibt. Dies wird auch von medizinischen Forschungen belegt.
In den Collagen werden junge Menschen gezeigt, die mit unterschiedlichen Objekten assoziativ verbunden sind. Dazu sind biographische Erinnerungen von Menschen zu hören, die zwischen 1930 und 1943 in Wien und der Umgebung geboren wurden. Eine Verbindung von Vergangenheit und Zukunft entsteht, die belastend oder beflügelnd sein kann.
Die Frage nach den unterschiedlichen Vorstellungen und Lebensphasen innerhalb einer Familie thematisiert auch Kateřina Šedá (1977 geboren in Brno, Tschechien). Die international bekannte Künstlerin arbeitet meist partizipativ, beschäftigt sich mit den Auswirkungen von wirtschaftlichen Verhältnissen auf soziale Gruppen, z.B. dem Bau einer Industrieanlage, der zwar Arbeitsplätze schafft, aber soziale, ökologische und räumliche Strukturen zerstören kann. Solche Auswirkungen auf ein Gemeinwesen, auf soziale Beziehungen und den Zusammenhalt sind in der Stadt Lehrte ebenfalls zu merken, da sie ab dem 19. Jahrhundert zunehmend durch Bahntrassen und Autostraßen zerschnitten wurde.
Bei der hier ausgestellten Arbeit „Es ist egal“, 2005, war eine familiäre Situation der Ausgangspunkt. Die Großmutter von Kateřina Šedá Jana, die ihr ganzes Leben lang aktiv gewesen war, stellte mit Beginn ihres Ruhetandes und nach dem Tod ihres Mannes alle Tätigkeiten ein. Sie ging nicht mehr einkaufen, kochte und putze nicht, sondern schaute pausenlos fern. Die Familie mußte die Versorgung übernehmen, Freundinnen zogen sich zurück, weil die Großmutter alle Fragen und Gespräche mit dem Satz „Es ist egal“ beantwortete bzw. beendete.
Um diesen Zustand zu durchbrechen, suchte Kateřina Šedá nach einem Ansatz aus der aktiven Zeit der Großmutter, um mit ihr ins Gespräch zu kommen. Die Großmutter Jana war von 1950 bis 1983 als Leiterin eines Werkzeuglagers einer Haushaltswarenhandlung in Brünn tätig gewesen. Der große, vielfältige Warenbestand und die Preise kannte sie auswendig, dies bildete die Grundlage für ein Zeichenprojekt. Jana zeichnete auf Anregung innerhalb von drei Jahren mehr als 650 Produkte des Warensortiments. Durch diese Beschäftigung verschwand der Satz „Es ist egal“ wieder aus den Gesprächen.
Die Zeichnungen, die Sie hier sehen, sind nur ein Ausschnitt aus dem Gesamtbestand. Wie in Zeilen sind einzelne Produktgruppen zusammengefasst. Die Werkzeuge sind trotz der ungeübten Darstellung in unterschiedlichen Größen dargestellt und zum Teil mit Zentimeterangaben versehen. In der rechten Spalte ist der Gesamtbestand aufgelistet, teils mit Nennung der Herstellerfirma oder des Landes, aus dem es stammt. Die Bezeichnung NDR taucht auf, was nichts mit dem Norddeutschen Rundfunk zu tun hat, sondern die tschechische Abkürzung für die DDR ist, denn der Zeitraum der Berufstätigkeit lag zwischen 1950 bis 1983. Ein individuelles Archiv ist entstanden, das ein Arbeitsleben sichtbar macht. Die Frage, warum die Großmutter Jana nach Ende des Arbeitslebens ihr Interesse am Leben und anderen Menschen verloren hat, bleibt offen. War sie erschöpft vom pausenlosen Funktionieren, waren die Brüche durch den Ruhestand, den Verlust des Partners und die veränderten politischen Verhältnissen zu groß? „Es ist egal“ drückt Gleichgültigkeit aus, doch wenn alles die gleiche Gültigkeit besitzt, was ist dann wertvoll, was wichtig?
In einer Gesellschaft, die das Ökonomische höher einschätzt als das Soziale, und dies wird an den Gehaltsunterschieden zwischen produzierenden Berufen gegenüber Tätigkeiten im sozialen Bereich wie Krankenpflege und Kinderbetreuung und dem Dienstleistungsgewerbe wie Verkäuferin oder Kellner sichtbar, trifft der Satz „Es ist egal“ eine zentrale Frage des Gemeinwesens. Ist der Konsum, das Wegwerfen und ständiges Wachstum wirklich höher zu bewerten als das Miteinander, das Füreinander und das Maßhalten? Letztlich wird die Schere von arm und reich immer größer und die Fragen nach Lebensinhalt und psychischer Stabilität dem Einzelnen überlassen.
Sybille Loew (1960 geboren in Nordhorn, Deutschland) beschäftigt sich in anderer Form mit der Vereinzelung und Vereinsamung in der Gesellschaft in ihrer Arbeit „Stiller Abtrag“, 2005. Mit diesem Begriff ist eine anonyme Beerdigung von Amts wegen gemeint, die ohne Feier stattfindet. Dies tritt ein, wenn keine Verwandten oder Freunde da sind, die sich um eine Beerdigung und den Nachlass kümmern können.
Ein Phänomen, das es in jeder größeren Stadt gibt, sicher seltener auf dem Land. In Prag sind dies jährlich etwas 120 bis 180 Personen, in Wien 800 bis 900 und in München ca. 600. Die Menschen werden eingeäschert und auf Anordnung der Stadtverwaltung beerdigt. Hier ist in einer anderen Weise die Verbundenheit im Gewebe der Lebensfäden verloren gegangen, denn die Erinnerung der Angehörigen hält Menschen ein Stück weit lebendig. Aber wer erinnert sich an anonym verstorbene Menschen?
Sybille Loew hat die Namen, das Alter und Sterbedatum aller anonym beerdigten Menschen im Jahr 2005 in München auf Schilder gestickt. Solche Schilder erhalten Neugeborene im Krankenhaus, damit sie zugeordnet werden können. Nun setzt Sybille Loew die Schilder am Ende des Lebens als Erinnerungstafeln ein. Das die Daten von Hand gestickt und nicht einfach geschrieben oder aufgedruckt wurden, verlängert den Entstehungsprozess und macht Zeit sichtbar. Dieses Sticken von Namen und Initialen ist etwas aus der Mode gekommen bzw. wird heute maschinell erledigt und war früher bei Kleidungsstücken, Wäsche oder Stofftaschentücher üblich. Es zeigte Besitzverhältnisse auf, als all diese Dinge noch sehr wertvoll waren, erleichtert aber auch die Zuordnung von Kleidungsstücken bei Uniformen, Berufskleidung u.a.m. Kleidungsstücke und Wäsche werden körpernah getragen, sie werden zu Erinnerungsträgern einer Person, zum Teil bis über den Tod hinaus.
Mit ihrer Installation schafft Sybille Loew einen Ort des Gedenkens jenseits des Friedhofs. Sie stellt aber auch eine neue Verbindung her zwischen all den Menschen einer Stadt, die einsam oder ohne Nachkommen verstorben sind.
Bei Jana Kasalová (1974 geboren in Turnov, Tschechien) wird noch eine andere Dimension des Vergessens und Erinnerns angesprochen. Sie beschäftigt sich mit Orts- und Landschaftsbezeichnungen auf Landkarten, die als Erinnerungsträger fungieren, aber leicht austauschbar und zerstörbar sind. Verschiedene Landkarten sind hier zu sehen, manche sind als solche auf den ersten Blick erkennbar, doch wenn man näher herantritt, sind die Ortsbezeichnungen von schwarzen Strichen überdeckt. Sich alleine an Höhenlinien und Straßenführungen zu orientieren gelingt nicht, die Bezeichnung der Orte, Seen und Berge ist entscheidend.
Andererseits sind die Namen allein, die durch eine weiße bzw. schwarze Abdeckung sichtbar werden auch nicht ausreichend, um eine Vorstellung der Landschaft zu erhalten. Hier scheint die Erinnerung nur punktuell sichtbar zu sein, die Verbindung, seien es Straßen, Flüsse oder die Landschaft an sich, fehlt. Die Orte befinden sich im Nirgendwo.
Landkarten sind heute aus der Mode gekommen, da man elektronische GPS – Systeme nutzt. Aber Landkarten sind mehr als Orientierungshilfen, sie sind Erinnerungsspeicher. Dies wird an der Karte des österreichisch-ungarischen Königreichs von 1910 sichtbar, die aus Tschechien stammt. Sie wurde zerknüllt oder gefaltet und bildet eine neue Gebirgslandschaft, in der man sich zu Recht finden muß. Anhand der Ortsnamen kann man sich orientieren, aber sie erscheinen auf Tschechisch. Ohne Sprachkenntnisse wird die Orientierung also schwierig, z.B. heißt der Bodensee, der in Süddeutschland auch als Schwäbisches Meer bezeichnet wird, auf Englisch Lake Constanze. Damit ist Konstanz die ausschlaggebende Komponente, nicht Bregenz oder eine andere Stadt. Aber auf Tschechisch heißt die Übersetzung ebenfalls Bodensee.
Unterschiedliche Orientierungs- oder Desorientierungssysteme werden sichtbar. Der Genfer See heißt auf Französisch Lac Leman, was unsinnig erscheint, wenn man weiß, daß Leman das indogermanisches Wort für See ist, also heißt der Genfer See auf Französisch See See. Sprachbezüge werden vergessen, aber bewußt auch in die Vergessenheit gedrängt.
Bei den drei liegenden Tafeln wird der Wechsel von Ortsbezeichnungen in verschiedene Sprachen thematisiert. Allerdings ist die Lesbarkeit zum Teil eingeschränkt, weil die Schrift schon verblasst zu sein scheint oder weil schwarze Balken einen Teil der Schrift verdecken. Dieses Unkenntlich machen durch schwarze Balken hat immer etwas von Zensur, als dürften bestimmte Inhalte nicht allen zugänglich sein. Ein Tabu in Bezug auf bestimmte Bezeichnungen und Namen entsteht, das kann umstritten oder sinnvoll sein. Niemand würde eine benachbarte Stadt von Lehrte als Stadt des KdF(Kraft durch Freude)-Wagens bei Fallersleben bezeichnen, dies war nur 1938 bis Mai 1945 der Fall, danach wurde sie Wolfsburg genannt. Dies zeigt sehr deutlich politische Veränderungen und Tabuisierungen.
Jana Kasalová verweist mit der Arbeit Vlčí jámy / Wolfsgrub ebenfalls auf geänderte politische Verhältnisse, aber auch auf noch frühere Bezüge. Denn hier wird auf ein Tier, den Wolf verwiesen, der in Fallen gefangen wurden, weil er eine Bedrohung bedeutete. Diese Zusammenhänge schwinden aus dem Gedächtnis, z.B. ist eine Durchquerung des Höllentals im Schwarzwald heute nicht mehr gefährlich und die Bezeichnung des ersten Ortes den man im Tal erreicht – Himmelreich – eher erheiternd als verständlich.
Dass Ortsbezeichnungen in einer Sprache gelöscht werden, kann einen Verlust von Identität hervorrufen, die stark durch die Sprache und Landschaft, in der man lebt oder aufgewachsen ist, geprägt wird. Ein Verlust der Heimat und der Möglichkeit sich selbstverständlich in einer gemeinsamen Sprache zu unterhalten hat enorme Auswirkungen, teils über Generationen hinweg. Dies ist nicht nur ein Phänomen des nordböhmischen Sudetenlandes auf den sich die Karten von Jana Kasalová beziehen, sondern ist überall zu finden, wenn auch in Grenzgebieten in besonderer Weise.
Die Ausstellung zeigt die Vielschichtigkeit des Themas Vergessen auf besondere, teils individuelle Weise, bietet jedoch gleichzeitig einen Blick auf mehrere Länder und Wahrnehmungsperspektiven. Ich hoffe, dass eine oder andere davon bleibt Ihnen in Erinnerung und bereichert Ihre bisherigen Erfahrungen zu diesem Thema.
Danken möchte ich zunächst der Niedersächsischen Sparkassenstiftung und der Sparkasse Hannover für die Förderung, ohne die die Ausstellung hier nicht gezeigt werden könnte.
Ich danke weiterhin den vielen Kooperationspartnerinnen, mit denen die Arbeit gerade erst beginnt und hoffentlich auch über das Projekt hinaus bei weiteren Gelegenheiten fortgeführt wird.
Ganz besonders danke ich in diesem Kontext meiner Kollegin Nadine Francksen, ohne deren Bereitschaft und Engagement das Begleitprogramm nicht möglich wäre.
Aber an erster Stelle gilt mein Dank den vier beteiligten Künstlerinnen, Jana Kasalová und Kateřina Šedá, die noch nicht hier waren, Sybille Loew, die auch beim Aufbau Ihrer Installation fulminantes geleistet hat und besonders Lena Knilli. Ohne Ihr Vertrauen in diesen Ausstellungsort wäre eine Präsentation in Lehrte nicht möglich gewesen, ebensowenig wie ohne Ihre organisatorische Arbeit und Ihr Engagement beim Aufbau.
Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend!
Julienne Franke
knillilena@gmail.com
all rights reserved © lena knilli
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